Kommentar: Verbot statt Verstand

Soziale Medien prägen den Alltag vieler Jugendlicher – Politik und Pädagogik diskutieren über Altersgrenzen.
Foto: Edu Figueres
(Anja Michaeli) Immer mehr Politiker verlangen ein Social-Media-Verbot für Jugendliche unter 16 Jahren. Die Zustimmung in der Bevölkerung ist hoch. Und tatsächlich: Studien zeigen problematisches Nutzungsverhalten, Suchtgefahren, die Wirkung von Algorithmen auf Selbstbild und Psyche. Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina plädiert deshalb für klare Altersgrenzen – darunter komplette Abstinenz unter 13 und elterlich begleitete Nutzung zwischen 13 und 15. Der neue Sucht- und Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Hendrik Streeck (CDU), setzt sich ebenfalls für „strikt abgestufte Altersvorgaben für soziale Medien“ ein. Pädagogen warnen vor einem zu frühen Einstieg.
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Diese Warnungen müssen ernst genommen werden. Zwei Beispiele zeigen das deutlich: Die Rate der Essstörungen bei Mädchen zwischen zwölf und 17 Jahren ist in den vergangenen Jahren massiv gestiegen. Forschung sieht einen Zusammenhang mit Social-Media-Plattformen, die verzerrte Körperbilder und riskante Trends verbreiten. Parallel wächst die Zahl junger Menschen mit Anzeichen problematischer, suchtähnlicher Mediennutzung. Streeck sieht Kinder und Jugendliche als besonders anfällig für riskantes Suchtverhalten. Nach seinen Angaben verbringen sie im Schnitt vier Stunden täglich in sozialen Netzwerken, hinzu kommen zwei Stunden Computerspiele und zwei Stunden Streamingdienste.
Doch Social Media ist nicht nur ein Ort für schiefe Ideale. Es ist auch ein Tatort. Laut Bundeskriminalamt wurden 2024 rund 18.000 Fälle sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen erfasst, viele davon online. Beim sogenannten Cybergrooming nehmen Täter Kontakt zu Minderjährigen auf, oft über Chats, Kommentare oder Direktnachrichten.
Das bequeme Verbot
So weit die Diagnose. Doch was kommt dann? Ein Verbot. Wie praktisch für die Politik! Anstatt das Problem an der Wurzel zu packen, wird ein digitaler Zaun errichtet. Das ist so, als würde man Alkoholmissbrauch bekämpfen, indem man alle Kneipen schließt – aber Kindern nie erklärt, was Alkohol mit ihnen macht.
Denn hier liegt der Skandal: Deutschland hat bei der Medienpädagogik jahrzehntelang versagt. Während Finnland bereits in den 90ern Medienkompetenz als Pflichtfach einführte, diskutieren wir 2025 noch darüber, ob Handys in Schulen gehören. Während Estland Erstklässler programmieren lehrt, kämpfen deutsche Lehrer mit defekten Beamern.
Warum können Sechzehnjährige eine Gleichung lösen, aber nicht erkennen, wenn sie manipuliert werden? Warum wissen sie, wie Photosynthese funktioniert, aber nicht, wie Algorithmen ihr Weltbild formen? Warum verstehen sie den Dreisatz, aber nicht die Mechanik von Filterblasen?
Wer profitiert vom Bildungsversagen?
Die Antwort ist unbequem: Ein medienkompetenter Bürger ist schwerer zu manipulieren. Tech-Konzerne verdienen Milliarden mit der Naivität junger Nutzer. Populisten profitieren von Menschen, die Fake News nicht erkennen. Und Politiker? Die können bei jedem Problem ein Verbot vorschlagen, anstatt in Bildung zu investieren.
Der Kinderschutzbund warnt vor pauschalen Altersgrenzen und verlangt stattdessen sichere Räume im Internet. „Auch Minderjährige haben ein Recht auf digitale Teilhabe“, argumentiert Vizepräsident Joachim Türk. Der Sozialverband Deutschland stimmt zu: „Die Herausforderungen der Digitalisierung lassen sich nicht zurückdrehen“, sagt Vorsitzende Michaela Engelmeier. „Ein Mindestalter mag sinnvoll klingen, ist aber kein respektvoller Umgang mit Heranwachsenden.“
Sie haben recht. Verbote sind Kapitulationserklärungen. Sie gestehen ein: Wir haben versagt, also sperren wir die digitale Welt weg.
Die unbequeme Wahrheit
Dabei wäre die Lösung einfach – nur politisch unbequem: Medienpädagogik ab der ersten Klasse. Nicht als Alibi-AG, sondern als Kernfach. Lehrer ausbilden, die wissen, wie Instagram funktioniert. Schulen mit WLAN ausstatten, das schneller ist als die Kreidezeit. Eltern Kurse anbieten, damit sie mithalten können.
Aber das kostet Geld. Das dauert Jahre. Das bringt keine Schlagzeilen.
Ein Verbot dagegen? Klingt nach Tatkraft. Kostet nichts. Und wenn es nicht funktioniert, waren die bösen Tech-Konzerne schuld.
Wer Kindern Social Media verbieten will, verrät seine eigene Hilflosigkeit. Wer sie stattdessen stark machen will für die digitale Welt, muss endlich in Bildung investieren. Nicht in Verbote, sondern in Verstand. Nicht in digitale Mauern, sondern in digitale Mündigkeit.
Die Frage ist: Wann hören wir auf, Symptome zu verbieten – und fangen an, Menschen zu bilden?
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