Meinung

Kommentar: Große Probleme, kleine Lösungen

Foto: nosovaolha

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(Anja Michaeli) Deutschland steckt in einer Bildungskrise, der Wohnungsmarkt ist überlastet, und die Industrie streicht massenhaft Stellen. Die strukturellen Probleme sind offensichtlich. Doch die Bundesregierung setzt andere Schwerpunkte: Sie bringt ein zentrales Fahrzeugzulassungsportal auf den Weg, verspricht eine 24-Stunden-Unternehmensgründung und diskutiert über Scheinvaterschaften. Die großen Themen bleiben liegen.

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Bildung: Ein Generationenbruch

Im Schuljahr 2023/2024 verließen etwa 62.000 Jugendliche die Schule ohne Schulabschluss – der höchste Stand seit zehn Jahren. Der Anteil stieg von 5,5 auf 7,8 Prozent (Statistisches Bundesamt, Deutschlandfunk). Diese Jugendlichen starten mit einem gravierenden Nachteil in das Arbeitsleben. Die Ursachen liegen oft in der frühen Kindheit: fehlende Sprachförderung, soziale Ungleichheit, unzureichende Betreuung. Trotzdem fehlt es an gezielter Förderung und politischer Entschlossenheit.

Wohnungsmarkt: Bauen lohnt sich kaum noch

2024 wurden rund 251.900 Wohnungen fertiggestellt – deutlich weniger als das Ziel von 400.000 (Statistisches Bundesamt, Tagesspiegel). In vielen Städten steigen die Mieten weiter. Fachkräfte lehnen Jobangebote ab, weil sie keine Wohnung finden. Laut Branchenverband ZIA sank die Zahl der Neubauprojekte im Wohnungssektor um 85 Prozent gegenüber 2022 (ZIA, Welt). Staatliche Auflagen machen bis zu 37 Prozent der Baukosten aus – ein erheblicher Investitionshemmnis (ZIA). Die Politik reagiert mit Förderprogrammen, doch der strukturelle Rahmen bleibt weitgehend unangetastet.

Industrie & Arbeitsmarkt: Fehlende Perspektiven

Seit Juli 2024 haben Unternehmen den Abbau von mehr als 140.000 Stellen angekündigt – darunter Volkswagen, Bosch, SAP und Thyssenkrupp (Institut der deutschen Wirtschaft). Die Ursachen reichen von Energiekosten über Investitionszurückhaltung bis zu Standortunsicherheit. Gleichzeitig sinken die Bruttoanlageinvestitionen: Im dritten Quartal 2024 lagen sie rund sieben Prozent unter dem Niveau von 2019 (IW Köln). Eine langfristige industriepolitische Strategie fehlt. Stattdessen überwiegen kleinteilige Programme.

Reformen im Schneckentempo

Die „Modernisierungsagenda“ der Bundesregierung umfasst 80 Maßnahmen: darunter die digitale Unternehmensgründung in 24 Stunden und eine zentrale Fahrzeugzulassung beim Kraftfahrt-Bundesamt. Beides ist überfällig – in Estland gibt es vergleichbare Systeme seit Jahren. Weitere Vorhaben: ein Bürokratiemeldeportal und digitale Anträge für Bürgergeld. Doch solche Einzellösungen ersetzen keine übergreifende Strategie.

Falsche Debatten statt klarer Prioritäten

Gleichzeitig setzt das Bundesjustizministerium Themen wie Scheinvaterschaften auf die Tagesordnung. Zwischen 2018 und 2021 wurden durchschnittlich 73 Fälle pro Jahr als missbräuchlich eingestuft (Bundesregierung, Antwort auf Kleine Anfrage, Bundestagsdrucksache 20/2734). Im Vergleich dazu: Jährlich verlassen mehr als 60.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss. Die politische Aufmerksamkeit steht in keinem Verhältnis zur gesellschaftlichen Relevanz.

Fazit: Haltung statt Symbolik

Deutschland braucht eine Politik, die sich auf das Wesentliche konzentriert: Bildung, Wohnen, Industrie. Digitale Verwaltungsportale und Nebenregelungen sind keine Antwort auf strukturelle Herausforderungen. Wer gestalten will, muss Prioritäten setzen – und sie am Ausmaß der Probleme ausrichten.

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