Staatstheater: „Überleben“ bewegt und ermahnt
Oldenburg (vs) Wohl noch nie ist ein Theaterstück im Oldenburgischen Staatstheater einer Stadt und ihrer Bevölkerung so nah gekommen wie „Überleben“. Bereits im Vorfeld des Theaterprojektes der Göttinger „werkgruppe 2“ zu den Serienmorden in den Kliniken in Delmenhorst und Oldenburg und dem Prozess um den 2015 und 2019 jeweils zu lebenslanger Haftstrafe verurteilten Krankenpfleger Niels Högel gab es öffentliche Bedenken und Diskussionen. Jetzt ist das bewegende und schonungslose Stück ein Zeitdokument aus Originalzitaten von Angehörigen, Betroffenen, Fachleuten und Klinikpersonal noch dreimal im Kleinen Haus zu sehen. Im vergangenen Jahr konnte auf Grund der Zwangsschließung nur die Premiere gezeigt werden.
Anzeige
Ein Theaterabend, der zutiefst bewegt und ermahnt, ob des offensichtlich jahrelangen zahlreichen Fehlverhaltens und Wegschauens von Verantwortlichen.
Dass man diesem Serienmörder jetzt auch noch ein Theaterstück widmet, war zu Recht zahlreichen Menschen zu viel. Zu viele immer noch offene Wunden sind vorhanden. Zu viele Fragen sind auch nach dem monatelangen Prozess nicht beantwortet. Aber wer die „werkgruppe 2“ und ihre auch in Oldenburg bereits präsentierten Arbeiten kennt, weiß wie sensibel mit ihren stets brisanten Themen umgegangen wird. Angehörige der wohl mehr als 200 Opfer meldeten sich zu Wort und selbst Polizeipräsident Johann Kühme verkündete, dass sich keiner seiner Beamten für ein Interview zu diesem Thema äußern werde. Auch Verantwortliche der Klinikleitungen wollten nicht sprechen nicht, sondern wurden von den Theaterleuten angesprochen. Am Ende wurden aufgrund der Kontakte zu Opfervertretern insgesamt 25 Interviews geführt, die zu einem dokumentarischen Text im Original zusammengefasst wurden.
Jahrelanges Versagen und Wegschauen in den Kliniken
In diesen schonungslosen Aussagen wird gleich zu Beginn des Stückes das unfassbare Versagen der Obrigkeiten und seinen Angestellten deutlich und angemahnt, dass sich das Publikum immer wieder fragt, wie so eine unvorstellbare hohl Zahl von schrecklichen Taten wirklich geschehen konnte. Die ersten Taten fanden bereits 2001 statt. Es wurde jahrelang weggeschaut, geleugnet und eingeschüchtert. Warum hat es zum Beispiel niemand bemerkt, dass die Zahl der Reanimationen während des Dienstes von Niels Högel um zehn Prozent stiegen. Wenn ein bestimmtes Herzmedikament plötzlich doppelt so viel eingesetzt wird wie vorher, wurde nicht gefragt, warum, es wurde einfach die doppelte Menge nachbestellt.
Schauspielensemble mit großem Fingerspitzengefühl
Mit reichlich Fingerspitzengefühl und bewegenden Emotionen agieren Caroline Nagel, Nientje C. Schwabe, Klaas Schramm und Kammerschauspieler Thomas Lichtenstein, wenn sie die verschiedenen Gesprächspartner*innen verkörpern. Mit bedächtiger Gestik und Mimik und den einfühlsam gesprochenen Worten dringt das Ensemble unter der Regie von Julia Roesler direkt zum Publikum durch. Ein Bläsertrio sorgt für die passenden musikalischen Hintergrund. Die imaginäre vierte Wand durchbrechen die vier Ensemblemitglieder bereits vor Stückbeginn, wenn sie mit dem Publikum über persönliche Erfahrungen mit dem Thema des Stückes sprechen. In der Mitte des Stückes wird es hell im Zuschauerraum und gemeinsam überlegen die Schauspieler*innen mit dem Publikum über die Möglichkeit und Notwendigkeit, wie ein Ort der Erinnerung und Mahnung zugleich in Oldenburg aussehen kann und müsste. Denn bis heute gab es von keiner offiziellen Stelle eine Entschuldigung.
Am 15. Februar beginnt ein weiterer öffentlicher Prozess, in dem jeweils vier Klinikverantwortliche aus Delmenhorst und Oldenburg angeklagt sind. Dann kann auch der Mörder als Zeuge aussagen, denn kein Mensch war näher dran an den Taten und seiner (Nicht-)Aufklärung in den Kliniken. Vielleicht bekommen Angehörige und Opfer dann eine Antwort auf ihre Frage „Warum?“.
Die letzten drei Vorstellungen sind am 21. und 28. Januar sowie am 5. Februar, jeweils um 20 Uhr im Kleinen Haus des Oldenburgischen Staatstheaters.
Informationen und Karten unter www.staatstheater.de und Telefon 0441 2225-111.
Keine Kommentare bisher