Oldenburg

ABC-Selbsthilfe: Vorkämpfer und Vorbilder

Fünf Jahre besteht die ABC-Selbsthilfegruppe in der Volkshochschule Oldenburg, und das ist für ihre Gründer Ernst Lorenzen, Achim Scholz und Brigitte van der Velde etwas Besonderes.

Sind seit fünf Jahren ein starkes Team (von links): Ernst Lorenzen, Achim Scholz und Brigitte van der Velde.
Foto: Katrin Zempel-Bley

Oldenburg (zb) – Fünf Jahre besteht die ABC-Selbsthilfegruppe in der Volkshochschule Oldenburg (VHS), und das ist für ihre Gründer Brigitte van der Velde und Ernst Lorenzen etwas Besonderes. Denn sie haben seinerzeit den Mut gehabt, über sich und ihre fehlenden Lese- und Schreibkenntnisse offen zu sprechen und somit für alle anderen Betroffenen einen Weg geebnet. Allerdings stellen Beide klar, dass es ohne ihren Lehrer und Begleiter Achim Scholz so nicht gekommen wäre.

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„Der Druck war immens“, erinnert sich Ernst Lorenzen. „Ich hatte genug von all den Ausreden und Täuschungsmanövern. Dauernd spürte ich, ich kann nicht lesen und schreiben. Es wurde immer komplizierter, sich in dieser Welt so zu bewegen, als könnte ich es. Ich hatte jedoch riesige Angst, es offen auszusprechen. Ich dachte, meine Familie zerbricht. Aber das Gegenteil war der Fall. Es ist wunderbar“, erzählt der 61-Jährige und strahlt. Heute ist er froh über seinen Schritt, denn sein Leben ist inzwischen ein vollkommen anderes.

Ähnlich erging es Brigitte van der Velde. „Ich spürte immer stärker, so kann es nicht weitergehen. Wie Ernst beschloss ich, offensiv mit meinem Problem umzugehen und fortan ging es mir von Tag zu Tag besser“, berichtet die 64-Jährige. „Ablehnung oder gar Unverständnis ist mir nicht entgegengebracht worden sondern eher Respekt.“

Die Oldenburger Gruppe war die erste in Niedersachsen und Vorbild für alle elf, die seither gegründet wurden. Auch Betroffene aus anderen Bundesländern informierten sich bei Ernst Lorenzen und Brigitte van der Velde. Selbst Bundeswissenschaftsministerin Dr. Johanna Wanka und Niedersachsens Wissenschaftsministerin Gabriele Heinen-Kljajic trafen sich mit ihnen, um aus erster Hand zu erfahren, was sie erlebt haben und wie sie Lesen und Schreiben gelernt haben.

Denn inzwischen beherrschen sie es, schreiben Artikel, lesen Bücher und gehen auf Buchmessen, Kongresse und Tagungen, wo sich Wissenschaftler für sie interessieren. „Das haben wir maßgeblich Achim Scholz zu verdanken“, sagen sie und heben vor allem seine sensible Art hervor. „Achim Scholz ist uns nur auf Augenhöhe begegnet“, betont Brigitte van der Velde, die zuvor ganz andere Verhaltensweisen erlebt und so manche Verletzung davongetragen hat.

Inzwischen werden sie ernst genommen. Vor allem auch Fachleute, die spezielle Lernmaterialien erstellen, suchen das Gespräch mit ihnen. Wer kann sie besser ausprobieren und beurteilen als einst Betroffene? Sie können sich in die Lage von Analphabeten hineinversetzen und berichten, wie sie am schnellsten gelernt haben. Außerdem bieten sie Mitarbeitern von Jobcentern zusammen mit Achim Scholz Schulungen an, damit sie erkennen können, dass jemand vor ihnen sitzt, der nicht lesen und schreiben kann.

Mittlerweile kommen rund 150 Menschen in die VHS, um lesen und schreiben zu lernen. In der ABC-Selbsthilfegruppe treffen sie sich regelmäßig, um im geschützten Raum über ihre Probleme zu sprechen. Ernst Lorenzen und Brigitte van der Velde spielen da eine große Rolle. Schließlich sind sie den Weg vorweg gegangen, haben sich zu lebensfrohen und selbstbewussten Menschen entwickelt, die problemlos vor großen Gruppen sprechen und vorlesen können.

Und was wünschen sich die beiden Vorkämpfer? „Viel mehr Offenheit in der Bevölkerung. Jeder, der jemanden kennt, der nicht lesen und schreiben kann, sollte diese Personen auf uns hinweisen, damit auch sie die Chance haben, das Leben neu zu erfahren“, sagt Brigitte van der Velde. Denn allein in Oldenburg leben rund 15.000 Betroffene. Nur ein Prozent kommt zu uns.“ „Nicht lesen und schreiben zu können, darf nicht länger ein Tabu sein. Wir können nur alle ermuntern, den Weg zu uns zu nehmen, um die Last, die sie alle tragen, fallen lassen zu können“, sagt Ernst Lorenzen.

Das nächste Treffen der ABC-Selbsthilfegruppe ist am 2. Mai von 19.30 bis 21.30 Uhr in der VHS an der Karlstraße 25 in Oldenburg, Raum 2.08. Telefonische Auskünfte gibt es Dienstag und Donnerstag zwischen 19.30 und 20.30 Uhr unter 01 76 / 90 74 86 49.

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1 Kommentar

  1. Karsten
    16. April 2016 um 19.23 — Antworten

    Danke für diesen Artikel! Auf das Problem mangelnder oder fehlender Grundbildungskompetenzen, das viel weiter verbreitet ist als allgemein angenommen, kann gar nicht oft genug hingewiesen werden. Als Ergänzung noch der Hinweis, dass die im Artikel vorgestellte ABC-Selbsthilfegruppe auch eine eigene Website betreibt unter http://www.abc-selbsthilfegruppe.de.

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