Geschichte

Forschungsprojekt über Krankenmord in Oldenburg

Hille Küpker von der DRV und der Historiker Dr. Ingo Harms präsentierten im Februar 2012 den 160 Meter langen Aktenfund, der inzwischen gesichtet wurde.

Hille Küpker von der DRV und der Historiker Dr. Ingo Harms präsentierten im Februar 2012 den 160 Meter langen Aktenfund, der inzwischen gesichtet wurde.
Foto: Katrin Zempel-Bley

Anzeige

Oldenburg (zb) – Vor zwei Jahren wurden in der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Oldenburg-Bremen umfangreiche Aktenbestände entdeckt, die eine genauere Untersuchung der Tuberkulosemedizin in Oldenburg von der Endphase des Nationalsozialismus bis Mitte der 1950er Jahre ermöglichen. Das Forschungsnetzwerk Alterssicherung der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Bund fördert jetzt ein zweijähriges Forschungsprojekt unter der Leitung des Historikers Prof. Dr. Alfred Fleßner von der Universität Oldenburg.

Der 160 Meter lange Aktenfund ist nicht nur äußerst umfangreich, „er ist so bedeutend, dass er zu einer neuen historischen Bewertung der NS-Medizin führen könnte“, meint Fleßner, der gemeinsam mit Christian Wolff, stellvertretender Geschäftsführer der DRV Oldenburg-Bremen, und Thomas Rathmann, DRV-Pressesprecher, das Projekt vorstellte.

Er will die Zeit von 1944 bis 1955 und dabei speziell die Verhältnisse im Kloster Blankenburg in Oldenburg untersuchen, wo eben TBC-Erkrankte untergebracht waren. „Zunächst wird es eine Bestandsaufnahme geben“, kündigt Fleßner an. Dann soll der Frage nachgegangen werden, wer überhaupt eine Behandlung bekam und wer nicht, wovon das abhing und inwiefern auch nach 1945 diese Methode fortgesetzt wurde.“ Wolff erklärt, die DRV möchte ihre Geschichte nicht nur aufarbeiten sondern sich ihr auch stellen. Für uns ist das ein wichtiges Anliegen.“

Lungentuberkulose oder vom Volksmund auch Schwindsucht genannt, war eine Volkskrankheit, unter der 1935 in Deutschland schätzungsweise 400.000 Menschen unter der offenen Form litten. Etwa eine Million Menschen waren an der geschlossenen Form erkrankt. Ein wirksames Medikament gab es noch nicht, weshalb die Betroffenen in Lungensanatorien oder Heilanstalten gebracht wurden, wo ihnen Liegekuren im Freien verordnet wurden. Vor allem Ruhe und Sonne half den Patienten, weil dadurch ihre Abwehrkräfte gestärkt und somit die Hustenanfälle gelindert werden konnten. Erst 1946 entwickelten die Amerikaner ein Antibiotikum.

„Damals wurden die Mediziner der Krankheit nicht Herr und ihre Bekämpfung wandelte sich während der NS-Zeit“, berichtet Fleßner. „Nicht die Krankheit wurde bekämpft sondern die Kranken, die als erblich vorbelastet, ‚asozial‘ und ‚gemeinschaftsfremd‘ stigmatisiert wurden. Viele von ihnen starben in der Psychiatrie und in Zwangsasylierungseinrichtungen. Dazu gehörte auch das Kloster Blankenburg, das ab 1944 neben weiteren Tuberkulosekrankenhäusern von der Landesversicherungsanstalt (LVA) Oldenburg-Bremen geführt wurde.

Betroffene wurde mit Eheverboten belegt, zum Teil zwangssterilisiert und zu Arbeitseinsätzen verpflichtet. Wer sich widersetze, kam z.B. ins Landeskrankenhaus Wehnen, wurde isoliert und nicht mehr ausreichend versorgt, weshalb die Kranken qualvoll starben. Die Kranken vom Kloster Blankenburg wurden durch ihre Arbeitseinsätze immer schwächer und überlebten nicht. Für Fleßner ein klarer Fall von Euthanasie. „Hier haben Mediziner den Tod von Schwerkranken billigend in Kauf genommen“, stellt er klar. Es handele sich um eine Form von Krankenhausmord. „Zudem sind einige Schwerkranke kurz vor ihrem Tod von Blankenburg in andere Heilanstalten transportiert worden, um so zu kaschieren, dass Blankenburg keine Sterbeklinik ist“, berichtet der Wissenschaftler.

Wie das im Detail gehandhabt wurde, wie Mediziner auf die Rahmenbedingungen der Nazis reagiert haben, ob sie mitmachten oder ein gebrochenes Verhältnis dazu hatten und wie lange sie noch nach dem Krieg an ihren Wirkungsstätten unbehelligt arbeiten konnten, all das will Fleßner erforschen. Denn tatsächlich gab es nach Kriegsende offenbar keinen Bruch. Hier wurde zunächst weitergemacht wie bisher.

Über die Oldenburger Verhältnisse war bislang wenig bekannt, doch das wird sich durch das Projekt ändern. Die Ergebnisse werden in einem Buch zusammengetragen und veröffentlicht. Der umfangreiche Aktenfund, der nicht nur Auskunft über die Behandlung von Patienten gibt, sondern auch Schriftverkehr der Verantwortlichen enthält, befindet sich derzeit schon im Staatsarchiv und wird auch für die Öffentlichkeit grundsätzlich einsehbar sein.

Vorheriger Artikel

Am Wallkino bröckelt der Putz

Nächster Artikel

Fundsachen im Internet zu ersteigern

Keine Kommentare bisher

Einen Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.