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Ex-Verfassungsrichter: Zweiter pauschaler Lockdown wäre unzulässig

Wegen Coronakrise geschlossener Laden, über dts Nachrichtenagentur

Berlin (dts Nachrichtenagentur) – Der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Ferdinand Kirchhof hält einen zweiten pauschalen Lockdown in Deutschland für verfassungswidrig. „Eine bundesweite Vorschrift wäre kompetenziell und sachlich nicht möglich“, sagte er der „Welt“ (Mittwochsausgabe). Die Hürden sind aus seiner Sicht dieses Mal höher als beim ersten Mal, denn „die Gefährdung durch eine zweite Schließung ist für die Gastronomie, den Einzelhandel und die Tourismusbranche erheblich größer“, sagte Kirchhof und verwies auf die in Artikel 12 des Grundgesetzes festgeschriebene Berufsfreiheit.

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Erneute Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens müssten zudem gegenüber anderen verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern, beispielsweise der allgemeinen Handlungsfreiheit (Artikel 2 GG) abgewogen werden. Laut Kirchhof ist ein Verweis auf die mögliche Überlastung der Gesundheitssysteme rechtlich nicht ausreichend. „Eine allgemeine Überforderung des Gesundheitssystems kann keine Rechtfertigung liefern; dann muss man vielmehr schnell neue Kapazitäten schaffen“, sagte er weiter. Ein erzieherisches Ziel dürften die Regeln ebenfalls nicht verfolgen; sie könnten nur auf die Bekämpfung der konkreten Gefahr ausgerichtet sein. „Letztlich ist vom Staat zu verlangen, dass er sich auf konkrete Risiken in Branchen, Veranstaltungen oder `Hotspots` bezieht, die Tauglichkeit seiner Konzepte zur Eindämmung der Gefahr nennt und nachweist, dass seine Maßnahmen nicht nur am Rande zur Eindämmung beitragen“, führte Kirchhof aus. Dies gelte auch für den Fall regionaler Lockdowns wie in Berchtesgaden. „Nur wenn die Maßnahmen zielgenau und sachbezogen Risiken eindämmen und gegenüber anderen rechtlichen Einbußen angemessen sind, gibt es keine Verfassungsprobleme vor Ort“, so Kirchhof. Der Ex-Verfassungsrichter schloss sich der in den vergangenen Tagen laut gewordenen Kritik an, dass die Regierungen von Bund und Ländern die Entscheidungen an den Parlamenten vorbei träfen. Auch er sieht ein Problem darin, dass der Staat nur über Rechtsverordnungen durch die Exekutive auf die Entwicklung reagiere. „Im ersten, schnellen Zugriff war das richtig, jetzt ist aber in der Demokratie das Parlament gefragt, so weitreichende und unser gesamtes Leben längerfristig umfassende Grundrechtseingriffe zu legitimieren, vorzuformen und zu begrenzen“, so Kirchhof. Das gelte auch für die Landtage. „Auch habe ich Zweifel, ob sich derartige Rechtsverordnungen noch auf das Infektionsschutzgesetz in Verbindung stützen lassen.“ Die Vorschriften dort seien für abgrenzbare Einzelfälle, nicht für flächendeckende und dauerhafte Maßnahmen gedacht.

Foto: Wegen Coronakrise geschlossener Laden, über dts Nachrichtenagentur

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1 Kommentar

  1. Marian Hoffman
    30. Oktober 2020 um 15.13 — Antworten

    Ein paar Verwaltungsgerichte werden sicherlich ein paar Regelungen kippen, aber im Großen und Ganzen wird wohl kaum etwas passieren. Das Volk möchte es ja auch alles so in der Mehrheit (sagt jedenfalls ARD/ZDF) und ist gerne bereit, seine Grundrechte „vorübergehend“ einzuschränken und zwar auch für Maßnahmen, die bestenfalls einen kleinen Effekt haben, wie ein nicht-medizinischer Mund-Nasen-Schutz, der auch lt. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte bestenfalls ein wenig die Ausatemluft abbremst und eventuell Speichel-/Schleim- oder Tröpfchenauswurf reduziert (aber auch nur eventuell! Eventuell auch nicht.) ansonsten nur dann etwas mehr Schutz bietet, wenn man ihn nach Regeln trägt, die praktisch nicht umsetzbar sind, (Zu finden mit Suchmaschine unter „BfarM Schutzmasken“).

    Die vorgestrige Presse-Konferenz war ansonsten eine Frechheit sondergleichen: man gibt zu, nur 25% der Infektionswege zu kennen, meint aber ernstlich sich anmaßen zu können zu wissen, wo die anderen 75% stattfinden. Da wird von einem Wiehler öffentlich gesagt, daß die Zahl der positiven PCR-Ergebnisse nach Restaurantbesuchen ziemlich klein ist. Eine Aussage, für die jeder Student im 1. Semester Statistik vom Professor vermöbelt werden würde. Wenn ich nur 1/4 aller Daten kenne, kann ich unmöglich von diesen auf die Gesamtheit schließen. Und weil ich das nicht kann, kann ich auch keine Folgerungen aus diesem Fehlschluß ziehen, jedenfalls wenn ich die Sicherheit meiner Einschätzung über Kaffeesatzlesen haben will. Oder anders gesagt: auf Grundlage solch dünner Datenbasis kann politisch gar nichts anderes entschieden werden, als das, was der Bauch einem nach Wetterlage gerade empfiehlt: es könnte sein, daß Restaurantbesuche eine relevante Bedeutung haben – oder eben auch nicht. Es könnte sein, das Abstandhalten Sinn macht – oder eben auch nicht. Allein schon der Blick auf andere Länder, in denen viel härtere Maßnahmen getroffen wurden, die aber offenbar nichts gebracht haben, könnte einen grübeln lassen.
    Und auf dieser Grundlage – die übrigens besser sein könnte, hätten die Landesregierungen (die sind nämlich eigentlich federführend) mal die Gesundheitsämter aufgestockt und die Krankenhäuser mit mehr Personal versorgt oder einfach auch selbst Feldstudien finanziert, die bspw. klären, wie erfolgreich und angemessen Maßnahme x,y oder z ist – auf dieser nichtssagenden 25%-Grundlage wird gerade an den Parlamenten vorbei ein Grundrecht nach dem anderen immer weiter eingeschränkt, ganze Existenzen werden vernichtet, Leute bringen sich vor Verzweiflung um (einem Musiker, der aus Verzweiflung Suizid beging, wurde zuletzt auf der „Roter Alarm“-Demo gedacht), es sind massenweise Existenzen wirtschaftlich massiv bedroht, ganze Lebensläufe werden um mehrere Etagen unverschuldet nach unten getreten, die Alten verkümmern in den Pflegeheimen (für die ist ein Sozialleben besonders wichtig und fehlt dieses, können die ganz schnell extrem abbauen, psychisch wie physisch) und so weiter und so fort. Es ist der helle Wahnsinn.
    Für keine dieser Maßnahmen haben unsere Regierungen irgend eine Evidenz vorzuweisen außer vielleicht den Meinungen (!) von wenigen Experten (und vielleicht Studien, die mit so heißer Nadel dieses Jahr gestrickt wurden, daß sie allein deswegen schon an Belastbarkeit verlieren und dies häufig auch selbst einräumen). Irgend eine harte Datenbasis hat man auch nach 8 Monaten zu verfertigen nicht zu Stande gebracht. Das ist der eigentliche Skandal: die Regierungen waren untätig und unwillens, ein Konzept für die zu erwartende kalte Jahreszeit frühzeitig zu planen, aber Schuld sind selbstverständlich nicht sie, nein! Schuld waren bis letztens die „Partygänger“, jetzt sind es neuerdings die Restaurants und Hotels. Evidenz? Null. Auch Sportstudios sind schuld, Sportvereine und hier auch die, die draußen Sport machen, Friseure (aber nicht Nagelstudios! Oder war es andersrum?), Schwimmhallen und für alles gilt: Evidenz =0. Es wird einfach behauptet und ein paar staatsnahe Experten bestätigen und fertig ist die massivste Einschränkung der Grundrechte und der krasseste Eingriff in die Wirtschaft seit Existenz der BRD. Und die Parlamente schlafen den Schlaf der Seeligen. Seit 8 Monaten.

    Das einzige Glück ist eigentlich, daß das Virus offenbar unterscheiden kann, ob etwas Restaurant, Schule, Kita oder Arbeitsplatz ist. Die Evidenz hierfür sind die Maßnahmen.

    In einem Artikel las ich letztens: Wenn die Bevölkerung diesen Lockdown mittragen will, muß sie das logische Denken aufgeben. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen, außer: das fällt der Bevölkerung offenbar leichter als erhofft.

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