Geschichte

NS-Krankenmord schon 1936 praktiziert

Hanna Tilgner stellte ihre Ergebnisse zur Hungerpolitik der Nazis in Oldenburg vor. Der Medizinhistoriker Ingo Harms betreute die Bachelorarbeit.

Hanna Tilgner stellte ihre Ergebnisse zur Hungerpolitik der Nazis in Oldenburg vor. Der Medizinhistoriker Ingo Harms betreute die Bachelorarbeit.
Foto: Katrin Zempel-Bley

Oldenburg (zb) Die Sterblichkeit unter Kindern des Oldenburger Gertrudenheims hatte während des Naziregimes traurige Rekorde zu verzeichnen. Zu diesem Ergebnis kommt Hanna Tilgner in ihrer Bachelorarbeit „Pflege im Nationalsozialismus: Sterblichkeit im Gertrudenheim Kloster Blankenburg in Oldenburg in den Jahren 1937-41“.

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Gestern stellte sie ihre Arbeit gemeinsam mit ihrem Betreuer Dr. Ingo Harms vom Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik vor und stellte klar: „Natürliche Todesursachen bei 106 Kindern aus dem Oldenburger Land und Bremen, deren Akten ich bearbeitet habe, scheiden weitgehend aus.“ Für ihre medizinhistorische Untersuchung hat die 25-jährige Studentin der Sonderpädagogik an der Universität Oldenburg Patientenakten studiert, die bis vor ein paar Jahren unberührt im Keller des Gertrudenheims, einer Einrichtung des Bezirksverbandes, lagerten und der Forschung zur Verfügung gestellt wurden. Inzwischen befinden sie sich im Staatsarchiv.

„Bis auf die Krankenakten waren die Daten vollständig bis hin zu privaten Briefen“, berichtet Hanna Tilgner. Die Krankenakten seien mit hoher Wahrscheinlichkeit noch während der NS-Zeit entnommen worden, so dass nicht klar war, woran die Patienten erkrankt bzw. gestorben seien. Nach bisherigen Erkenntnissen sei zu vermuten gewesen, dass die Lebensbedingungen im Gertrudenheim mit denen der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen vergleichbar waren, berichtet Tilgner. Auch hier dienten Hunger und Vernachlässigung als Instrumente zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, wie sie die nationalsozialistische Ideologie propagierte.

„Allerdings konnte aufgrund der fragmentarischen Quellenlage bislang kein eindeutiger Nachweis geführt werden“, sagt Ingo Harms. „Durch gründliche Recherche und Auswertung statistischen Materials konnte Hanna Tilgner diese Forschungslücke nun schließen. Mit der Auswertung Hunderter von Patientenakten geht ihre Studie weit über die Ansprüche an eine Bachelorarbeit hinaus und leistet einen wichtigen Beitrag zur regionalen Medizin- und Sozialgeschichte.“

Sie befasste sich mit der Zeit 1937 bis 1941 und konnte 106 Todesfälle belegen. Dabei handelt es sich um Kinder und Jugendliche zwischen zwei und 18 Jahre, die unter einer geistigen Behinderung litten und von ihren Eltern im Gertrudenheim untergebracht wurden. „Vermutlich nicht ganz freiwillig“, gibt Ingo Harms zu bedenken und erinnert daran, dass Adolf Hitler den Krankenmord erst 1939 befohlen hat. „In Oldenburg wurde er da schon praktiziert“, so Ingo Harms.

Dr. Carl Ballin, ein Regierungsrat im Oldenburger Innenministerium und Vorstand des Landesfürsorgeverbandes, dem heutigen Bezirksverband, hat diese Politik in Oldenburg zu verantworten. „Er hatte sogar jüdische Vorfahren und hat trotzdem rassenhygienische gedacht“, berichtet der Medizinhistoriker und belegt es mit entsprechenden Dokumenten.

Den 106 Kindern und Jugendlichen wurde systematisch Nahrung entzogen bis sie den Hungertod starben. „Durch diese Hungerpolitik konnte viel Geld eingespart werden, das kulturellen Einrichtungen – unter anderem auch dem Museumsdorf Cloppenburg“, wie Ingo Harms berichtet – „zu Gute kamen“. Hanna Tilgner fand zudem heraus, dass etwa die Hälfte der Leichen auf dem Gelände von Kloster Blankenburg verscharrt wurde und dort später ein Kesselhaus gebaut wurde. Der andere Teil wurde auf den Oldenburger Neuen Friedhof überführt. An beiden Orten weist bis heute keine Gedenktafel darauf hin, dass dort ermordete Kinder und Jugendliche liegen.

Während der Zeit des Nationalsozialismus sind in Deutschland mehr als 200.000 Menschen in Heimen und Anstalten ermordet worden. Lange ging man davon aus, dass die Region Oldenburg von dem sogenannten Euthanasie-Programm nicht betroffen war. Erst die in den 1990er Jahren einsetzende medizinhistorische Forschung an der Universität Oldenburg korrigierte dieses Bild.

Ein von Ingo Harms angeregtes gemeinsames Forschungsvorhaben mit der Oldenburgischen Landschaft und dem Bezirksverband stößt derweil auf wenig Interesse. Hier sollen die Zuweisungen an kulturelle Einrichtungen erforscht werden, die man in den Pflegeeinrichtungen eingespart hat und somit den Tod vieler Menschen billigend in Kauf nahm. „Offenbar ist das nicht gewollt. Zumindest hat sich seit dem Vorschlag die gute Atmosphäre verdüstert“, sagt er abschließend.

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1 Kommentar

  1. W. Lorenzen - Pranger
    6. August 2014 um 18.03 — Antworten

    Zitat: „Ein von Ingo Harms angeregtes gemeinsames Forschungsvorhaben mit der Oldenburgischen Landschaft und dem Bezirksverband stößt derweil auf wenig Interesse.“

    Echt? Wer hätte das bei DEM Personal gedacht? http://www.oldenburgische-landschaft.de/wir-ueber-uns/vorstand.html !

    Was hat doch eine gewisse Erika Mann ihrem Vater, damals noch in den USA und vor den Nazis gefflohen, seinerzeit geschrieben?
    Die Denke in diesen Kreisen hat sich, jeder wirklich denkende Mensch weiß das, seither nur sehr, sehr wenig geändert.

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