Film

Tatort Bremen: „Im toten Winkel“

Der Tatort „Im toten Winkel“ wurde im Bremer CinemaxX gezeigt.

Der Tatort „Im toten Winkel“ wurde im Bremer CinemaxX gezeigt.
Foto: Achim Neubauer

Bremen (Achim Neubauer) Der drittletzte Bremer Tatort „Im toten Winkel“ mit Kommissarin Inga Lürsen und ihrem Kollegen Nils Stedefreund wird am 11. März erstausgestrahlt. Die Premiere fand bereits im Rahmen einer Kinoaufführung statt. Die Geschichte: Die Bremer Ermittler werden mit den Untiefen der häuslichen Pflege konfrontiert. Der Rentner Horst Classen erstickt seine Frau, Oliver Lessmann kümmert sich zu Hause um seine im Wachkoma liegende Ehepartnerin und Akke Janssen verzweifelt an der Pflege ihrer dementen Mutter.

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Ganz still war es, unmittelbar nachdem der neue Radio Bremen Tatort über die Kinoleinwand des Bremer CinemaxX gelaufen war. Die Zuschauer mussten sich erst sammeln, bevor der Premierenapplaus einsetzte und auch die anwesenden Schauspieler brauchten einen Moment um sich auf den üblichen Talk einlassen zu können. Sabine Postel, die Kommissarin Lürsen, ließ Camilla Renschke (Helen Lürsen) den Vortritt, um dann mit einem engagierten Statement zur Situation häuslicher Pflege sich zu Wort zu melden. Aus persönlichen Erfahrungen gespeist, formulierte sie eine bittere Abrechnung mit dem Zustand der Pflege in Deutschland; zugespitzt auf die Feststellung, dass sie keine Hoffnung habe, dass sich diese Situation ändern würde.

Der Bremer Tatort tut weh; wieder einmal legen die Filmemacher um Redakteurin Anette Strelow den Finger in die Wunde gesellschaftlicher – und politischer – Missstände und wieder einmal ist das Fazit, dass gezogen wird, ein bitteres. Katrin Bühlig recherchierte für ihr Drehbuch intensiv im Bereich der häuslichen Pflege, durfte sogar einen Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen bei seiner Arbeit begleiten. Ihr half das, einen noch differenzierteren Blick auf dessen Aufgaben zu werfen. So war im ersten Expose der Gutachter Carsten Kühne (Peter Heinrich Brix) sehr viel düsterer angelegt. Nach ihren Besuchen beim MDK wurde deutlich, dass Brix – „ein Lieber“, so Bühlig – sehr viel besser den Grat zwischen Ohnmacht und persönlicher Schuld interpretieren können würde. Es ist dieser differenzierte Blick – es gibt kein klares „Gut oder Böse“ – der den Bremer Fall bestimmt. Schließlich gewinnt „Im toten Winkel“ seine Relevanz dadurch, dass Regisseur Philipp Koch seinen inzwischen dritten Tatort eher als Dokumentation, denn als Kriminalfilm inszeniert; seiner Intensität werden sich die Zuschauenden schwer entziehen können.

Camilla Renschke, Dieter Schaad, Sabine Postel, Regisseur Philipp Koch, Carmen Molinar, Produzent Michael Polle, Autorin Katrin Bühlig (von links).

Camilla Renschke, Dieter Schaad, Sabine Postel, Regisseur Philipp Koch, Carmen Molinar, Produzent Michael Polle, Autorin Katrin Bühlig (von links).
Foto: Achim Neubauer

Nils Dörgeloh (Sven Claasen), KKHK Lürsen (Sabine Postel), Carsten Kühne (Klaus Peter Brix).

Von links: Nils Dörgeloh (Sven Claasen), KKHK Lürsen (Sabine Postel), Carsten Kühne (Klaus Peter Brix).
Foto: Radio Bremen / Christine Schröder

Dieter Schaad (Horst Claasen) und KHK Lürsen (Sabine Postel).

Dieter Schaad (Horst Claasen) und KHK Lürsen (Sabine Postel).
Foto: Radio Bremen / Christine Schröder

Katrin Bühlig (Grimmepreisträgerin 2014 für einen Film über die forensische Psychiatrie) fokussiert ihr Buch konsequent auf die dokumentarischen Elemente des Films und sprach davon, dass es nicht ganz einfach gewesen sei, die traditionellen Zutaten für einen Film der Reihe Tatort zu integrieren. Horst Classen, der in der ersten Szene des Films seine Ehefrau mit einem Kissen erstickt, ruft unmittelbar nach der Tat, bevor er selbst Tabletten nimmt, bei der Polizei an, dass die „im Laufe des Tages mal vorbeikommen“ möge, die Leichen abzuholen. Er habe gehört, dass Tote stark riechen würden und man wolle die Nachbarn nicht belästigen.

Selbst den Tätern; dem Mörder, der Tochter, die ihre Mutter schlägt, dem Gutachter vom Medizinischen Dienst; ihnen allen ist die Verzweiflung anzumerken, in einem tristen, ungerechten System der Pflege gefangen zu sein, das zudem auch noch von korrupten Pflegediensten mit mafiösen Strukturen beherrscht wird.

So ist es auch nicht in erster Linie ein Kriminalfall, der im Zentrum von „Im toten Winkel“ steht; ein Denkmal setzt der Film aber den Angehörigen, die sich in der Pflege aufopfern und dabei völlig überfordert sind. In langen, sehr intensiven Szenen ist Kameramann Jonas Schmager ganz nahe bei den Schauspielern, die großartiges Spiel abliefern. Einzelne dabei herauszuheben, bleibt ungerecht, aber: Das Zusammenspiel von Dörte Lyssewski (Akke Jansen) und Hiltrud Hauschke als ihrer schwer demenzkranken Mutter Thea Jansen ist einfach kongenial – schwer zu ertragen, die Szenen, die da zu sehen sind, die Rufe, die sich im eigenen Ohr festsetzen.

Auf jeden Fall – das lässt sich schon am Anfang des Jahres feststellen – ein (vielleicht: der) thematisch wichtigste Tatort des Jahres 2018.

Interessant zu wissen

  • Rund 2,8 Millionen Menschen werden zuhause von ihren Angehörigen versorgt. Eine Infratest-Untersuchung ergab, dass sich 83 Prozent der privat Pflegenden von ihrer Situation „schwer belastet“ oder „extrem belastet“ fühlen. Die durchschnittliche Pflegezeit beträgt rund zehn Jahre.
  • Winfried Hammelmann („Bremen vier“) hat wieder einen – wenn auch stummen – Gastauftritt als Kriminalassistent Karlsen.
  • „Im toten Winkel“ wurde vom 21. August bis 22. September in Bremen und Umgebung gedreht; das unbeständige Wetter erschwerte die Arbeiten ziemlich.
  • Katrin Bühlig schrieb auch den Stuttgarter Tatort „Altlasten“, der für den Grimme-Preis 2010 nominiert war: Ein Rentnerehepaar verabredet den gemeinschaftlichen Suizid, die Frau überlebt, ihr Ehemann verstirbt. In „Im toten Winkel“ verstirbt die Frau, ihr Mann überlebt den gemeinsamen Suizid-Versuch. Beide Male wird der Ehemann von Dieter Schaad gespielt.
  • Der nächste Lürsen Tatort „Blut“ (AT) wurde im Spätherbst 2017 gedreht und soll (voraussichtlich) im Herbst 2018 gesendet werden.
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