Marieta Freymuth, Lothar Barrelman und Doris Vogel-Grunwald arbeiten in der Bahnhofsmission Oldenburg.
Foto: Kai Niemann
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Oldenburg (zb) – Wer wissen will, was sich in unserer Gesellschaft zuträgt, der fragt am besten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bahnhofsmission. Der Sozialdienst am Bahnhof ist Seismograph für gesellschaftliche Veränderungen, sagen sie. Was sich in den vergangenen 100 Jahren verändert hat, das kann ab sofort in der Dokumentation „100 Jahr Bahnhofsmission Oldenburg“ nachgelesen werden, die das Diakonische Werk Oldenburg jetzt herausgebracht hat.
Am 1. Mai 1915 ist die heutige Bahnhofsmission gegründet worden. Das geht aus einem Rundschreiben der Deutschen Bahnhofsmission aus dem Jahr 1915 hervor. Seit Deutschland mit einem flächendeckenden Eisenbahnnetz überzogen ist, sind weit entfernte Orte innerhalb weniger Stunden und Tage erreichbar. In den Bahnhöfen herrschte bald reges Treiben. Nicht nur das Alltagstempo wird schneller auch soziale Umwälzungen, ein sich verschärfender Gegensatz zwischen Stadt und Land, Arm und Reich, erfahrenen und unerfahrenen Reisenden.
„Manch einer drohte hier buchstäblich unter die Räder zu kommen“, sagt Diakonie-Vorstand Thomas Feld. „Für sie waren die Bahnhofsmissionen da, sie boten und bieten Hilfe und Orientierung.“ 1915 gab es bereits 90 solcher Einrichtungen. Ursprünglich richteten sie sich an hilfsbedürftige Mädchen auf Stellensuche, Frauen und Reisende. Das Aufgabenprofil wandelte sich mit der Zeit und den Ereignissen.
Die Gründung der Oldenburger Bahnhofsmission fällt zusammen mit der Einweihung des neuen Bahnhofsgebäudes im Jugendstil, der beide Weltkriege überstanden hat und bis heute erhalten geblieben ist. Es war ein schwieriges Jahr. Die anfängliche Euphorie zu Beginn des Ersten Weltkrieges war längst der Ernüchterung gewichen. Die Auswirkungen des Krieges waren auf den Bahnhöfen zu spüren. Hier gab es schmerzhafte Abschiede, traurige Rückkehrer, verzweifelte Flüchtlinge. Die Ehrenamtlichen der Bahnhofsmission hatten alle Hände voll zu tun, setzten dabei aber vor allem Zeichen der Hoffnung und des Trostes.
1939 wurden Bahnhofsmissionen von der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt beschlagnahmt und unter anderem Juden, Polen, Zigeuner und Asoziale von der Betreuung ausgeschlossen. Erst 1947 ging es mit der einstigen Bahnhofsmission weiter. Die Menschen kämpften mit den Folgen des Krieges. Ende der 1950er Jahre kamen die ersten Gastarbeiter, die sich auch an die Bahnhofsmission wandten. Sie fühlten sich einsam genauso wie Obdachlose. Aber die Mitarbeiter der Bahnhofsmission halfen auch vielen Reisenden am Bahnsteig mit schwerem Gepäck, kümmerten sich um Kinder und zeigten den Menschen den Weg. Hilfestellung in allen Lebenslagen ist stets ihre Mission gewesen.
Bei dem anderen Motiv handelt es sich vermutlich um die ersten Räumlichkeiten nach dem Krieg um 1947.
Foto: Diakonie
Vieles hat sich in hundert Jahren der Bahnhofsmission Oldenburg verändert. Statt Dampflokomotiven fahren heute elektrobetriebene Züge in die Huntestadt und von hier aus in alle Richtungen. Statt eines Zimmers, wie vor 100 Jahren, dessen genaue Lage heute nicht mehr zu rekonstruieren ist, befindet sich die Bahnhofsmission Oldenburg heute in Räumen direkt hinter den Schiebetüren der großen Halle am Aufgang zu Gleis 1. Statt Fräulein M. Müller, die vor allem während der sogenannten Quartalstage, das waren Tage mit häufigem Berufs-, vor allem Dienstbotenwechsel, Dienst tat, arbeiten heute drei hauptamtlich Beschäftigte und ein Team von 20 Ehrenamtlichen im wochentäglichen Schichtsystem am Bahnhof.
Unverändert kommen Menschen mit großen und kleinen Nöten zur Bahnhofsmission und wenden sich in den unterschiedlichsten Lebenssituationen an sie. Wie einst Fräulein Müller versuchen die Mitarbeitenden heute individuell und ganz praktisch Hilfestellung zu geben. „Am Bahnhof praktizieren wir täglich aufs Neue diakonisches Handeln und sind somit Ort gelebter Kirche“, sagt die Leiterin Doris Vogel-Grunwald.